Vollkommen gleich, ob man ein Tiefbauunternehmen leitet, ob man Maurer- oder Dachdeckermeister ist, Heizungsbauer oder Elektroinstallateur: An Normen kommt man nicht vorbei. Sie sind das Mark der Baubranche – und auch eines ihrer wichtigsten Stützkorsette, das dafür sorgt, dass Arbeit, egal wie unterschiedlich Häuser und Bauregionen sind, immer gleich, immer auf aktuellstem Stand und auch nach Jahrzehnten noch austausch- und erweiterbar ist.
Doch sie sind für die Baubranche auch als Kette von Jahrzehnte zurückreichenden Standards von allergrößter Wichtigkeit. Dabei haben Normen recht kriegerische Wurzeln.
Henry Maudslay und seine Gewindeschneidemaschine
Aktuell gibt es rund 35.000 DIN-Normen, jährlich kommen zirka 2000 hinzu. Satte zehn Prozent dieser Masse betreffen die Baubranche – nicht nur zu deren Freude. Wie viele Einzelnormen es allerdings zwischen DIN, EN, ISO, ANSI und Co. weltweit sind, das wissen nicht mal Experten.
Doch vor dieser Zeit war das Nichts – zumindest, wenn man die Technikwelt betrachtet. Abwesende Standards waren über Jahrtausende kein allzu großes Problem, weil Serienfertigung nur im höchst überschaubaren Rahmen stattfand. Dann aber begann die industrielle Revolution. Und mit ihr die Serienproduktion von Bauteilen in bislang völlig ungekannten Mengen.
An diesem Punkt trat zum wiederholten Male der geniale Maschinenbauer Henry Maudslay in den Scheinwerfer der Weltgeschichte. Der Brite, der die industrielle Revolution durch zahlreiche Maschinen-Erfindungen entscheidend mitbestimmte, erfand Ende der 1790er eine Drehmaschine, die automatisiert Gewinde auf Bolzen-Rohlinge schnitt. Was zuvor in Handarbeit mit entsprechenden Toleranzen geschehen war, war nun maschinell-präzise in Gewindeflanken-Form, Tiefe und Steigung.
Maudslays Maschine war so in der Lage, allein durch die Flut maschinell erzeugter Schrauben einen Firmen-übergreifenden Standard zu erschaffen.
Motorknattern und Schienenrattern
Wer aber die Norm, wie wir sie kennen, anschob, war ein junger Maschinenbauer, der gerade erst seine ersten Job-Stationen hinter sich hatte: Joseph Whitworth war das, was man heute als Nerd bezeichnen würde. Er war fasziniert davon, Maschinen und ihre Produkte immer präziser und wiederholgenauer zu machen. Ein Glücksfall der Geschichte: Whitworth fand Anstellung in Henry Maudslays Firma in London – wo der Erfinder schnell das enorme Talent seines jungen Eleven erkannte und förderte.
Nachdem Maudslay 1831 verstorben war, machte Whitworth mit einem Fokus auf Schrauben weiter und landete zehn Jahre später einen Coup, der bis heute nachwirkt: Er ersann ein zölliges Gewinde mit 55 Grad Flankenwinkel und fest vorgegebener Materialgüte. Erst nahm die Royal Navy, die britische Marine, es dankend an. Die befand sich in diesen 1840er Jahren nicht nur in einer tiefgreifenden Umbauphase vom Segel- um dampfbetriebenen Eisenschiff. Sie steckte ab 1853 auch im Krim-Krieg und benötigte dafür eine hohe Stückzahl von massengefertigten Motor-Kanonenbooten. Nun hatte die Marineleitung für die Motoren zwei Optionen:
- Sie ließen die Motorbauer einfach machen. Das hätte zur Folge gehabt, dass keinerlei Austauschbarkeit gegeben gewesen wäre – eine untragbare Bürde für die Ersatzteilbeschaffung.
- Sie nutzte einen im sprunghaften Aufblühen befindlichen Standard. Just den konnte Whitworth liefern.
Die Marine tat letzteres und bekam so binnen 90 Tagen 120 Kanonenboote von dutzenden Schiffsbauern, die sich wiederum auf unzählige Zulieferer stützten und bei denen jede Motorschraube zwischen den Schiffen getauscht werden konnte – eine technische Sensation. Von diesen Vorteilen eines übergreifenden Standards überzeugt, sprang auch die königliche Eisenbahn sprichwörtlich auf den Zug auf und nutzte das Gewinde. Damit war British Standard Whitworth (BSW) geboren. Das erste großmaßstäblich standardisierte Produkt der Welt. Und nicht nur, dass es bis heute weltweit Verwendung findet. Es hatte sogar Auswirkungen auf eines der Mutterländer des metrischen Systems, Deutschland.
Das zöllig‘ Rohr in der metrischen Burg
Dadurch, dass die Briten dank BSW einen herben Vorsprung gegenüber allen anderen Ländern errungen hatten, wurden sie zu einem wichtigen Exporteur – just auch nach Deutschland, das gerade damit beginnen wollte, seine Städte, beginnend mit Hamburg (1848), Magdeburg (1859) und Berlin (1855), großmaßstäblich für Wasser und Gas zu verrohren.
Und von da zieht sich die Brücke ins Hier und Heute: Denn der Grund, warum wir auch 145 Jahre nach Unterzeichnung der Meterkonvention und 103 nach Gründung des ersten deutschen Normungsausschusses bei Rohren immer noch Zölliges benutzen, ist genau das: Damals hatten die britisch gelieferten Rohre einen zölligen Innendurchmesser. Da ein Umstellen dieser Maße in späteren Zeiten unglaublich aufwendig gewesen wäre, blieb man dabei – auch wenn die realen Maße mittlerweile metrisch gerundet sind.
Zeit, Geld und Eigenbrötlerei
Dank BSW gab es nun einen sinnvollen Anfang. Allerdings setzte sich Normierung abseits davon nur schleppend durch. Das hatte mehrere Gründe:
- Viele Industrielle glaubten, dass sie einen Wettbewerbsnachteil bekämen, wenn Teile ihrer Produkte auch von anderen Unternehmen geliefert werden könnten.
- Unter den zahllosen Erfindern jener Epoche gab es viele Kämpfe, weil viele den Ruhm wollten, einen Standard erkoren zu haben.
- Es mangelte vollends an übergeordneten Stellen. In der damaligen Zeit hielten Regierungen sich weitestgehend aus der Wirtschaft heraus.
- Die Entwicklungssprünge waren weiterhin rasant, auch in der Materialentwicklung. Hätte es in diesem Bereich Normen gegeben, hätte das große Risiko bestanden, schnell von der Entwicklung überholt zu werden.
Doch die Nachteile der Normlosigkeit wogen schwerer als die Streitereien und Ängste. Zur Jahrhundertwende waren es abermals die Briten, die voranschritten. Schon damals gab es auf der Insel Zusammenschlüsse von technischem Fachpersonal. 1901 traten mehrere davon zusammen:
- Bauingenieurswesen,
- Maschinenbauingenieure,
- Schiffsbauingenieure,
- Metall-Ingenieure Eisen und Stahl,
- Elektroingenieure.
Sie schufen das Engineering Standards Committee. Eine Organisation, die nur dem Zweck verschrieben war, Normen für das britische Weltreich zu erschaffen – und noch heute als British Standards Institution BSI fortbesteht.
Wie wichtig eine derartige Ebene zwischen Wirtschaft und Regierung war, zeigte sich drei Jahre nach der Gründung auf der anderen Seite des Atlantiks: 1904 war in Baltimore ein Großfeuer ausgebrochen. Wehren aus New York, Philadelphia und Washington DC eilten zur Hilfe, konnten jedoch nichts tun – ihre Schlauchanschlüsse passten nicht auf Baltimores Hydranten; 2500 Gebäude brannten innerhalb 30 Stunden nieder.
Doch auch solche Katastrophen in Verbindung mit dem guten Beispiel der Briten, die nicht zuletzt dank der Normung zum Weltführer im Schiffbau avancierten, schafften es nicht, den finalen „Schubs“ zu geben. Das gelang erst durch einen weiteren traurigen Anlass.
Einheit für die Stahlgewitter
1914 brach der erste Weltkrieg aus. Und seine bis dato ungekannten Ausmaße der industrialisierten Kriegführung stellten alle beteiligten Nationen vor unzählige Herausforderungen. Darunter auch folgendes:
Wie sollte man Millionenheere bewaffnen? Und das angesichts der gigantischen Verluste an Mensch und Material auch noch in enormen „Schlagzahlen“?
Das führte bei allen Kriegführenden zu der Erkenntnis, dass strenge Rationalisierung vonnöten war, damit noch jeder Dorfschmied seinen Beitrag leisten konnte, ohne dass die Produkte uneinheitlich würden. Der Schlüssel: Normen. Im Deutschen Reich begann dieser Prozesse im Mai 1917, als der Normalienauschuss für den Maschinenbau gegründet wurde, nachdem der Verein Deutscher Ingenieure Aufbauarbeit geleistet hatte. Die alsbald in NADI – Normenausschuss der deutschen Industrie – umbenannte Kommission machte sich eilends an die Aufgabe, DI-Normen zu entwickeln.
Am 1. März 1918 war die DIN-1 fertig: Kegelstifte. Ein zwar simples Produkt, das aber durch Hersteller-eigene Steigungsraten zuvor immer wieder für Probleme verantwortlich war. Im Oktober desselben Jahres zogen auch die USA nach, formten die ähnlich aufgebaute American Standards Association (heute American Standards Institute).
Und die Baubranche? Die bekam ihre erste DIN, die direkt für den Hausbau von Bedeutung war, bereits im Jahr nach Kriegsende: 1919 kam die DIN-5 – Zeichnungen, Blattgrößen, Maßstäbe, Farbe der Darstellung.